Vergleicht man heute die Chemnitzer
Stadtteile untereinander, stellt man große Unterschiede in der
postsozialistischen Entwicklung fest. Wahrend einige Stadtteile sehr
schnell an Wirtschaftskraft und Lebensqualität gewonnen haben, scheint
es in anderen etwas langsamer voranzugehen. Zu den letztgenannten gehört
auch der Stadtteil Hilbersdorf. Wohl in keinem anderen Chemnitzer Gebiet
stehen die Zeitzeugen der unterschiedlichen Epochen so dicht
beieinander, wie hier. Zwischen den liebevoll hergerichteten Altbauten
findet man tiefe Schluchten zerfallener Wohn- und Geschäftshäuser, die,
wenn sie sprechen könnten, wohl ein lautes Wehklagen über ihren
traurigen Zustand anstimmen würden. Ein beredtes Beispiel dafür ist der
Hilbersdorfer "Fest- und Ballsaal" an der Frankenberger Straße. Welche
Geschichte verbirgt sich hinter Hilbersdorf?
Das "Leben" des kleines Bauerndorfes beginnt am Ende des 13.
Jahrhunderts. Durch Rodungen im fruchtbaren Erzgebirgsvorland entstand
für die Landwirtschaft nutzbarer Boden, welcher durch den Hilbersdorfer
Bach gut zu bewässern war. Schnell siedelte sich hier allerlei Landvolk
aus den deutschen "Urgebieten" an und kultivierte das gerade
christianisierte Land. Die erste Erwähnung des Dorfes findet man um
1290. Ganz nach fränkischem Vorbild entstand ein kleines Waldhufendorf,
welches wie zu dieser Zeit üblich, ‘mal diesem und ‘mal jenem weltlichen
oder kirchlichen Herren gehörte. Letztlich teilte auch Hilbersdorf das
Schicksal der Nachbardörfer, indem es vom reichen Chemnitzer
Benediktinerkloster aufgekauft und seiner Macht unterstellt wurde. Die
Benediktiner ordneten Hilbersdorf dem Glösaer Kirchspiel unter und so
ging die Gerichtsbarkeit auch vom benachbarten Glösa aus. Zur Dorfflur,
deren Territorium etwas über 300 Hektar maß, gehörten 15 Bauernhöfe. Den
heutigen Namen Hilbersdorf führt man auf den Anführer der damaligen
Bauernschaft, Hildebrand, zurück. Sein Name führte zum Ortsnamen
"Hillebrandisdorff" und später kurz "Hilbersdorf".
Die Hilbersdorfer Bauern selbst waren "freie" Bauern und erbberechtigte
Besitzer ihres Bodens. Sie hatten lediglich einen Fron als Erbzins an
das Kloster zu entrichten - den Röhrwasserdienst. Ihre Aufgabe war es,
die Versorgung des Klosters mit frischem Wasser sicherzustellen. Zu
diesem Zweck betrieben sie eine Holzrohrleitung, in welcher das Naß
ständig in das Kloster floss.
Doch das Leben im Dorf war keineswegs so beschaulich, wie es scheint. Es
wurde regelmäßig von plündernden Heerscharen heimgesucht und mehrmals
vollkommen ausgeraubt. Besonders der 30jahrige Krieg und der
Befreiungskrieg gegen Napoleon forderten ihre Tribute. Oftmals konnten
die Hilbersdorfer wirklich nicht viel mehr retten, als ihr nacktes
Leben.
Die wirtschaftliche Entwicklung setzte in Hilbersdorf am Ende des 18.
Jahrhunderts ein. Zu dem ersten Wirtschaftssäulen zählte das
Steinmetzhandwerk. Es lieferte die für Chemnitz wichtigen Baumaterialien
aus eigenen Rohstoffquellen. Der in Chemnitz oft anzutreffende
Porphyrtuff war reichlich in der Hilbersdorfer Flur zu finden. Die
Auftragslage war mehr als gut und so wurde aus dem bis dahin
verschlafenen und armen Dorf eine reiche Gemeinde. Schon 1797 wurde so
in Hilbersdorf die Chemnitzer Steinmetzinnung gegründet. Der Aufschwung
im Steinmetzgewerbe führte zu einem raschen Anstieg der Bevölkerung im
Ort. Im 19. Jahrhundert entstanden immer mehr Steinbrecherbetriebe,
welche aber auch zum Verfall der Landwirtschaften beitrugen.
In der Folge wandelte sich Hilbersdorf schnell zum Wirtschaftsvorort.
Beschleunigt von der neuen Eisenbahnlinie Chemnitz-Dresden, der
günstigen Lage des Chemnitzer Hauptbahnhofes und dem schnellen
"Schulterschluss" zwischen Chemnitz und Hilbersdorf entwickelte sich der
Ort zum Industriestandort. Die "Eisenbahnwerkstätten" und
Produktionseinrichtungen der Zimmermannschen Werkzeugmaschinenfabriken
siedelten sich hier an. Das nun brachliegende Bauernland bot ideale
Bedingungen für den Wohnungsbau. Die reichen Bauern des Ortes schlossen
sich mit den neuen Genossenschaften und anderen Kapitalgesellschaften
zusammen und bauten Wohnungen für viele Hunderte Arbeiter. Auf einem
anderen Teil der Ortsflur entstand der größte Güterbahnhof Sachsens. Im
Jahr 1900 erreichten allein die verlegten Gleise eine Länge von mehr als
70 km - und das auf dem Boden von drei Bauerngütern.
Nachdem die wirtschaftlichen und sozialen Verflechtungen zwischen
Chemnitz und Hilbersdorf immer dichter wurden, gemeindete man am 1.
April des Jahres 1904 Hilbersdorf nach Chemnitz ein.